Mit 30 fing es an. Am Anfang hab ich sie noch gezählt und gezupft. Nach 7 hab ich aufgehört: Seitdem kämpfe ich mit jedem einzelnen grauen Haar und den Themen, die für mich daraus erwachsen…
Schluss mit dem Färben!
Seitdem mein Baby auf der Welt war, kostete es mich einfach zu viel Zeit. Die Naturhaarfarbe aus Indien mit Tee zur bröckeligen Paste rühren, 3-4 Stunden unter einer kratzigen lila Wollmütze einwirken lassen, für 3-4 Tage den intensiven Dauerduft von Heu, Erde und Rinde in der Nase – und am nächsten Morgen das Bettkissen schlammfarben, wenn ich vergessen habe, ein Handtuch draufzulegen. Und das Ergebnis: Nette Effekte im Licht, die etwa eine Woche hielten.
Haare und Identität
Klar, ich hätte auch in den Salon gehen können. Aber ich wollte erst gar nicht damit anfangen, mich abhängig zu machen. Für die nächsten Jahrzehnte alle zwei Wochen Ansatz nachfärben, um meine Naturhaarfarbe mit chemischen Mitteln nachzuahmen. Die Zeit, das Geld, der Aufwand! Also entschied ich mich vor zwei Jahren, meine neue Naturhaarfarbe anzunehmen.
Heute – mit 35 Jahren – muss ich sagen: Es wäre gelogen, zu behaupten, dass es mir leicht fällt. Ich färbe sie zwar nicht, kämme sie aber so geschickt, dass Fremde sie auf den ersten Blick kaum wahrnehmen. Noch fehlt mir der Mut, sie offen zu zeigen. Und das ärgert mich. Ich – die ich theoretisch kein Rollenverständnis und kein Schönheitsideal hinnehmen möchte – bekomme es nicht hin, meine grauen Strähnchen schön zu finden?! “Natürliches graues Haar sieht so schön aus!” – sag ich zu meiner Freundin. Füge aber still in Gedanken hinzu: “Nur nicht bei mir!”
Sind die gesellschaftlichen Standards doch schon zu tief in mir verankert? Sind meine Haare meine Identität?
Haare sind mehr als Haare.
Eine milliardenschwere Industrie lebt davon, dass wir Haare (aber bitteschön nur die auf dem Kopf!) mit Schönheit, Persönlichkeit oder Jugend verbinden: Stylingmittel, Haarfarben, Perücken, Haartransplantation und vieles mehr geben uns heutzutage vermeintlich die Freiheit selbst zu entscheiden, was wir auf dem Kopf tragen.
Haare werden als Zeichen der Unterdrückung abrasiert oder müssen versteckt werden.
Oder haben eine kulturell-historische Bedeutung, die mit Widerstand verwoben ist: Sklaven haben sich zum Beispiel, bevor sie auf die Schiffe verfrachtet worden sind, wertvolle Reiskörner in ihre Zöpfe geflochten. Hexen haben rote Haare, Männer mit langen Haaren sind Hippies und Frauen mit kurzen Haaren besonders tough – so aufgeladen sind Haare. Haare sind eben nicht nur Haare. Haare haben Symbolcharakter.
Warum kann ich mich also nur in der Theorie damit anfreunden, meine grauen Haare stolz zu tragen? Brauche ich radikale Selbstliebe, Mut oder Revoluzzertum?
Radikale Veränderung
Zugegeben: Wenn ich versuchte, an Rollenbilder zu denken – abseits von 16-jährigen Schülerinnen im Minirock mit Granny Hair – fielen mir zuerst nur Zerrbilder ein: Zerzauste Hexen (verwahrlost!), Cruella de Vil von den 101 Dalmatinern (fiese Antiheldin!) oder farblose Oma-Figuren (sexlos!).
Ach so, und dann gibt es noch die Glamour-Grauen: Bildschöne Modeltypen wie Vogue-Editor Sarah Harris, die ihr Grau zum Markenzeichen machte und auch mit einem Mülleimer-Deckel auf dem Kopf elegant und chic aussehen würde.
Birgit Schrowange zelebrierte im Jahr 2017 ihr Coming-out mit einem Medienspektakel: 1 Jahr hatte die damals 59-Jährige im Fernsehen eine Perücke tragen müssen, um die Übergangsphase vom gefärbten Braun zum natürlichen Weiß zu verdecken. Nach ihrem ersten Auftritt mit Naturhaarfarbe kommentierten die Journalisten das mit: “mutig” und “wagt radikale Typveränderung”. Ihre TV-Kollegen Günther Jauch oder Peter Kloeppel durften dagegen still und heimlich ergrauen. Könnte da jemand unterstellen, dass es bei denen mehr drauf ankommt, was sie im Kopf haben als oben drauf?
Mein Körper gehört mir
Das erinnert an die Body Positivity-Bewegung. Klar, ist es ehrenwert, Menschen daran zu erinnern, dass ein Körper auch als schön angesehen werden sollte, wenn er nicht dem gesellschaftlich diktierten Schönheitsideal entspricht. Doch genau das führt oft dazu, dass die „anderen“ Körperformen wieder als nicht normal empfunden werden. Ihre “Andersartigkeit” wird hervorgehoben.
Meine Meinung: Es sollte verdammt nochmal niemanden interessieren: Der Körper ist kein Politikum, der Körper ist Privatsache!
Silver Sisters halten zusammen.
Ich sehne mich nach Rollenbildern, mit denen ich mich identifizieren kann. Wunderschön normale Frauen, die einen grauen Ansatz rauswachsen lassen, bei denen manchmal borstige, drahtige Babyhaare vom Kopf abstehen oder nicht schablonenartig verteilte Salz-und Pfeffer-Strähnchen.
Endlich gibt es in den Sozialen Medien eine Bewegung von genau solchen Silver Sisters gibt, die zum Beispiel unter dem Hashtag #goinggrey von ihren Erfahrungen berichten. Sie erzählen von den übergriffigen Kommentaren von Fremden wie “Du würdest mindestens 10 Jahre jünger aussehen, wenn du dir die Haare färben würdest.” Oder beschreiben Situationen, die sie verletzt haben wie die eine, die für die Frau von ihrem über 90-jährigen Vater gehalten wurde. Teilen gleichzeitig auch Erfolge, Komplimente und Ermutigungen.
Und obwohl ich meine grauen Strähnen noch wegkämme, fühle ich mich als Teil genau dieser unperfekt verletzlich authentischen Frauen. Und der Rest darf natürlich wachsen – und (je nach Tagesform) auch ergrauen…
Model: Liza Licence | Autorin: Anne Tolmich